ANGELS
IN PROGRESS
DIE ENGELGESCHICHTE
Dies ist eine wahre Geschichte.
Ich bin schwanger mit meinem Sohn Nathaniel. Eines Nachts höre ich eine klare innere Stimme. Die Stimme reiht Sätze aneinander wie Perlen, die man auf einen Faden aufzieht, einer nach dem andern. Ich fühle, dass es wichtig ist, diese Sätze aufzuschreiben. Also tue ich es ... und auch, weil mich die Stimme sonst eh nicht einschlafen lässt. Jede Nacht setze ich mich brav hin und schreibe die Sätze in meinen Computer ohne zu wissen, was ich hier genau schreibe. Wochen später merke ich, dass diese Perlenwörter tatsächlich eine Geschichte ergeben.
Ein paar Monate später kommt Nathaniel zur Welt. Eines Tages höre ich wieder diesselbe innere Stimme, die mich klar auffordert "Engel zu schiessen" (im Englischen heisst shoot a picture, Bilder zu fotografieren). Ich bin mir bewusst, dass die Aufforderung keiner radikalen Aktionen bedingt, sondern einfach bedeutet, Engel zu fotografieren. AHA. Toll. Und wo? Ich packe alles nötige in einen alten Camper aus den Siebzigern und beginne meine Mission ins Unbekannte mit 48 Windeln, einer Handvoll Schnullern und einer Wagenladung an Kuscheltieren.
Im Auto beobachten mich grosse Babyaugen skeptisch hinter der Schnulleraufschrift "I love mommy"... Ich kann es ihm nicht verdenken: Was zum Teufel (hmm nein passt nicht). Was zum Kuckuck mach ich hier eigentlich? Jede NORMALE Mutter bleibt mit ihrem Baby zuhause. Et moi? Ich folge inneren Stimmen... ach ja: und Engeln. (Obwohl ich überhaupt nicht religiös bin, nicht mal im Ansatz, nur dass das hier mal erwähnt ist).
Ich schliesse hinter dem Steuerrad also meine Augen und nehme eine klare feine Stimme wahr: starte den Motor... links ... rechts ... geradeaus.
Stur fahre ich anhand meines inneren Navi und irgendwann nachts erreichen wir einen See auf der italienischen Seite, nähe der Schweizer Grenze.
Die Nacht ist sternenlos dunkel und wir stehen plötzlich vor einem geschlossenen Eingang zum Camping. Auf der anderen Seite sehe ich weisse Caravans eng aneinander geparkt. Ich höre die Wellen an die Steine am Ufer schlagen am nahen See. Mit Nathaniel auf meinem Arm stehen wir vor der geschlossenen Schranke - ein Bild einer Madonna würdig. Ich frage nach einem offenen Eingang. Rasch erfahren wir, dass dies gar kein Camping ist, sondern lediglich das jährliche Treffen des Camperclubs von Norditalien. Aber Italien wäre nicht Italien, würden sie nicht einer Madonna mit Kind Einlass gewähren.
Am nächsten Morgen bringen uns fünf spontane Besucher Milch, Kaffee und Croissants für unser Frühstück - das ist doch besser als Myrrhe, Gold und Weihrauch finde ich. Ich liebe Italien! (Wir sollten die Schnullerinschrift ändern). Gestärkt entschliesse ich mich, meine Geheimmission wieder aufzunehmen.
Die Reise geht weiter. Mein inneres Navi versorgt mich mit den notwendigen "Links"-, "Rechts"- und "Geradeaus"- Angaben jeweils knapp vor den Biegungen. Aber mit dem nächsten "Links" stoppen wir vor einer haushohen Mauer. Das ist definitiv eine Sackgasse! Die Reise zerrt an meinen Nerven und ich bin müde. Nach einer Weile kann ich meine bäuerliche Schimpftirade eindämmen (eigentlich nur weil ich zu müde bin und mein Atem nicht mehr reicht). Ich drehe mich zur Seite und lese "I love mommy". Wunderschöne Babyaugen genau darüber blicken mich ruhig an. Ich beruhige mich und schaue die Wand hoch. Plötzlich sehe ich die Spitzen von wunderschönen Engelsflügeln auf der andern Seite. AHA... hier geht's um VERTRAUEN.
Eine ganze Woche werden wir von einem Engel schöner als der nächste "geführt". Nach einer Woche habe ich über 200 Engelbilder "geschossen", die ich am Ende der Reise nun nach Hause nehme.
Unser letzter Tag bricht an und wir fahren im frühen Morgenverkehr Richtung Heimat. Seit ungefähr 10 Minuten befinden wir uns auf einer sehr stark befahrenen Hauptstrasse, als ich bemerke, dass die Bremsen nicht mehr funktionieren. Vor mir führt eine steile Linkskurve bergab. Die Autos fahren eng nacheinander. Für den Bruchteil einer Sekunde gefriert das Bild in mir und ich weiss: das geht nicht gut aus.
Plötzlich reisst etwas (jemand?) mein Steuerrad nach rechts und wir fahren in allerletzer Sekunde auf einen Schotterplatz in einem Garten. Der Camper findet endlich Halt. Wie in Trance schaue ich links zu einem wunderschönen Steinhaus am Ende des Gartens. Das Anwesen gehört Vittoria, einer Witwe mittleren Alters. Sie nimmt uns auf und setzt
mich zitternd mit Nathaniel an ihren Küchentisch. Wir fangen an zu reden und hören erst spätnachts vor dem Kaminfeuer wieder auf.
Auf den Tag genau vor sechs Monaten hat Vittoria ihren Mann verloren.
Wir weinen gemeinsam über unsere Verluste und staunen zur selben Zeit über das Leben und seine Windungen.
Am nächsten Morgen verabschieden wir uns berührt glücklich über die geteilten Geschichten. Ihr Schwager bringt uns über die Grenze zu einem Mietauto, mit dem ich die Reise mit Nathaniel und 200 Engeln im Gepäck nach Hause antrete. Der Camper bleibt bei Vittoria. (Zum Glück habe ich vor der Reise eine Rückholversicherung abgeschlossen.)
Monate vergehen und ich bin beruflich an der Kinderbuchmesse in Bologna. Auf dem Rückweg Richtung Alpen denke ich an Vittoria, aber weil es das erste Mal ist, dass ich länger von Nathaniel getrennt bin, entschliesse ich mich direkt nach Hause zu fahren. Tief in Gedanken verpasse ich die Autobahnausfahrt zum Simplon und verirre mich.
Leise fluchend kurve ich zwischen den italienischen Dörfern umher, unfähig den Weg zurück zur Autobahn zu finden. Plötzlich erstarre ich, denn ich kann meinen Augen nicht trauen: Ich fahre geradewegs auf Vittoria's altes Haus zu.
Wieder in ihrem Garten klopfe ich erneut an ihre Tür. Freudig und erstaunt fallen wir uns in die Arme und da weiss ich, die Engelreise ist noch nicht zu Ende.
Da sitzen wir am mir wohlbekannten Küchentisch. Vittoria sieht mich mit ihren grossen braunen Augen an. Sie erzählt, dass heute der Todestag ihres Mannes sei. Vor genau einem Jahr ist er gestorben.
Wir reden, wir lachen, wir staunen - und nun weiss ich: Engel sind nicht aus Stein, sondern aus Fleisch und Blut.
